Wer was werden will, wird …

… Ingenieur, oder Arzt! Das sind traditionell die beiden Optionen, die man als Mittelklasse-Inder zur Berufs-Wahl hat. Status ist in Indien alles – und diese beiden Professionen genießen in Indien das höchsten Ansehen
. Daher sind auch die ehrgeizigen Eltern entsprechend bemüht, ihre Kinder auf den rechten Weg zu bringen. Als (Software)-Ingenieur oder Arzt bekommt man den entsprechenden Respekt, erzielt man die höchsten Einkommen und kann damit auch die beste Braut (inklusive Mitgift) erwarten. Was will man mehr in einer Gesellschaft, in der sich alles um Status, Geld und Hochzeit dreht?

Aber dem nicht genug! Es ist entscheidend von welcher Universität man den Abschluss hat. Neben dem Studium im Ausland, kommen ein paar wenige indische Elite-Unis in Frage. Die IITs (Indian Institutes of Technology) sind die indischen Kader-Schmieden für Naturwissenschaften, Technik und Ingenieurswesen. Diese “institutions of national importance” sollen jene Talente hervor bringen, die die indische Wirtschaft und Gesellschaft nach vorne bringen. Das hat sich aber schnell in der Welt herum gesprochen, sodass noch vor zehn bis zwanzig Jahren tausende der raren IIT-Absolventen das Land verließen, um in den USA oder England anzuheuern. Indien hatte schlussendlich nicht viel von seinen Superhirnen – Stichwort „Brain Drain“. Heute schaut es wieder besser aus. Viele von ihnen kehrten wieder nach Indien zurück; und die Jungen bleiben heutzutage auch gerne im eigenen Land. Heute stehen die Karriere- & Verdienst-Chancen in Indien jenen im Ausland um nichts nach.

Jetzt schon beginnen sich alle Kandidaten auf die Aufnahme-Prüfung, die im April abgehalten wird, vorzubereiten. Diese Tests gehören zu den schwierigsten der Welt. Die IIT-Aspiranten müssen eine schriftliche Prüfung in den Fächern Physik, Chemie und Mathematik ablegen. Auf etwa 10.000 Studienplätze kommen 500.000 Bewerber, die die Prüfung bestreiten. Nur eine(r) aus 50 bekommt einen der begehrten IIT-Plätze.

Was diese Aufgabe noch schwerer macht sind die so genannten „Reservations“. 15% aller Studienplätze sind für „Schedules Castes“ (Dalits, „Unberührbare“) und 7,5% für „Schedules Tribes“ (Adivasi bzw indigene Völker) vorgesehen. Die machen ihr eigenes Rennen, und für einen Studienplatz reichen üblicherweise schlechtere Ergebnisse als in der „allgemeinen / offenen Klasse“. Die „Reservations“ sind wahrscheinlich das umstrittenste Thema in Indien. Die einen finden sie ungerecht, weil sie dem „Leistungsdenken“ und freien Wettbewerb widersprechen. Die anderen finden diese „Zugeständnisse“ nicht ausreichend. Der Film „Aarakshan“ (2011) widmete sich diesem Thema und wurde in den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Punjab und Andhra Pradesh (zeitweise) sogar verboten.

Der Druck, den sich die Kandidaten, beziehungsweise ihre Eltern, aufbauen führt jedes Jahr im Frühjahr von Dramen bis zu Selbstmorden. Nicht alle sind dem Leistungsdruck gewachsen, zerbrechen an den Erwartungen und leiden danach jahrelang unter dem Trauma des Scheiterns. Das indische Leistungsdenken fordert seine Opfer.

Seit ein paar Jahren erwägen die aufgeklärtesten urbanen Familien auch schon andere Berufs-Wünsche ihrer Kinder. Eine freie Studienwahl, oder gar Langzeitstudien, Studienwechsel, Orchideen-Fächer, Kunst etc wie in Europa sind in Indien aber auch weiterhin kein Thema. Auch ohne Talent oder jegliches Interesse gilt hier: Ein Software-Ingenieur ist und bleibt ein Software-Ingenieur!

(Wolfgang Bergthaler)

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