Indien ist ein langfristiger Markt und keine „schnelle Nummer“!

Hier der zweite Teil des Interviews mit Isabelle-Jasmin Roth, Managing Director von Avantgarde India, Deutschlands größter Live-Kommunikations-Agentur, mit Sitz in Neu Delhi. Sie erläutert warum Indien in den kommenden zehn Jahren zur globalen Wachstums-Lokomotive wird, welche Innovationen zu erwarten sind und warum junge Leute aus Europa in Indien arbeiten sollten.

IW: Du scheinst die ungeahnten geschäftlichen Möglichkeiten der aufstrebenden Supermacht voll zu nutzen. Warum glaubst du an Indien und seine wirtschaftliche Dynamik in den kommenden zehn Jahren?

IJR: Indien geht seinen ganz eigenen Weg. Allein durch die stark wachsende Bevölkerung – 2025 wird Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen – entstehen riesige neue, inländische Märkte. Ein wichtiger Faktor ist dabei der Boom der urbanen Mittelschicht: Ebenfalls bis 2025 wird diese von 50 Millionen (2009) auf geschätzte 580 Millionen Menschen ansteigen. Auf der anderen Seite sind Inder international sehr vernetzt, was vor allem mit der großen Diaspora, also der im Ausland lebenden Inder, zu tun hat. Es ist auch zu beobachten, dass viele junge Inder, die etwa an ausländischen Top-Universitäten ausgebildet wurden, nach Indien zurückkehren, weil auch sie an die große Chance, z.B. in der boomenden Start-Up-Szene, glauben. Die immense Nutzung von internationalen Social Media-Plattformen, wie Facebook und Twitter, verstärkt den Informationsaustausch gewaltig.

Ich kann kein anderes Land benennen, das sich in einer derart parallel verlaufenden Transformationsphase befindet und auf der anderen Seite mit rudimentären sozialen Problemen, wie der immer noch immensen Armut, zu kämpfen hat. Daher ist Indien ist für mich auch ein Innovations-Labor für neue Produkte und Services, da mehr mehr Firmen den „Bottom-of-the-Pyramid“-Bereich als Chance erkennen. Was Management-Guru C.K.Prahalad, der das BoP-Konzept maßgeblich geprägt hat, schon vor Jahren als “Gandhische Innovation” prophezeite, wird nun Realität: Mehr und mehr Low-Cost-Lösungen werden von indischen Firmen für indische Kunden entwickelt, vor allem im Bereich der Armutsreduzierung und Bereitstellung von Grundressourcen wie dem Zugang zu Essen, Wasser und Elektrizität. Momentan sehen viele internationale Firmen Indien, auch wegen seiner unzureichenden Infrastruktur und seiner demokratischen Struktur, die Entscheidungsprozesse oftmals erheblich verzögern, im Abseits zu China. Doch das wird sich meiner Meinung bald ändern – daher steht für mich außer Frage, dass Indien auf dem besten Weg ist, in den nächsten 10 Jahren der wichtigste asiatische Markt zu werden.

IW: Warum sollten andere jungen Leute aus Europa einen Job in Indien in Erwägung ziehen?

IJR: Diejenigen, die am Puls der Zeit sein möchten, spontan und kommunikativ sind, gestalten möchten und mutig sind, die keine Scheu vor stetem Wandel haben und eine einzigartige Innovationskultur miterleben möchten – diejenigen sind in Indien in der Regel gut aufgehoben.

IW: Und wer sollte eher zu Hause bleiben?

IJR: Diejenigen, die Angst haben, nicht unternehmerisch denken, die sichere Prozesse dem Abenteuer vorziehen oder nur wegen Jobmangel in Europa nach Indien schauen, werden in der Regel nur kurz in Indien verweilen. Indien ist ein langfristiger Markt und keine „schnelle Nummer“. Wer hier leben will, muss sich allen Konsequenzen bewusst sein – und dann ist es sicherlich eine der bereicherndsten Erfahrungen, gerade für junge Leute. Was hat man denn zu verlieren? Nichts. Wer viel gibt, bekommt viel zurück – und in Indien manchmal sogar noch ein bisschen mehr.

IW: Ich bin der Meinung, es gibt keine gegensätzlicheren Kulturen wie die der Deutschen im Vergleich zu Indien. Wie siehst du das?

IJR: Es gibt sicherlich fundamentale Unterschiede, die ich auch an mir selber beobachten konnte. So sind Deutsche in der Regel oftmals formeller im Umgang mit Geschäftspartnern
. Es gilt: Zuerst das Geschäftliche und irgendwann (viel später) das Private. In Indien ist es genau andersherum bzw. oftmals werden Geschäftliches und Privates gar nicht erst voneinander getrennt. Bei Verhandlungen wurde ich oftmals mitten im Gespräch gefragt, ob ich verheiratet sei. Ob ich Geschwister habe, und wenn ja, wie viele. Wo meine Eltern leben, was sie beruflich machen, woher ich genau komme. Auch ich musste im Laufe der Zeit lernen, dass dies keine ‚unprofessionelle Manövertaktik ist – sondern einfach reine Neugier. Die daraus oft nur schwer zu ertragende Unverbindlichkeit im Geschäftsleben hat definitiv Risikopontential. Denn während der eher geradlinige deutsche Manager vor allem an der Sache interessiert ist, steht in Indien die Person immer im Vordergrund. Aber ich kenne viele Deutsche, die ebenfalls seit Jahren in Indien leben, und sich sehr wohl fühlen. Adaption heißt das Zauberwort – ohne dabei sein „Deutsch-Sein“ komplett aufgeben zu müssen. Denn das ist die wunderbare Kehrseite der indischen Gesellschaftsstruktur: Die Offenheit und Herzlichkeit, mit der man hier empfangen wird, lässt jeden noch so krassen Kulturunterschied mit der Zeit verblassen.

IW: Siehst du deinen Lebensmittelpunkt (für immer) in Indien?

IJR: Ich habe keinerlei Absichten, in den nächsten Jahren woanders leben und arbeiten zu wollen als hier. Auch da ich persönlich durch Freunde und meinen Partner fest in Indien verwurzelt bin – Delhi ist meine zweite Heimat geworden.

IW: Du bloggst regelmäßig auf ijroth.com. Warum? Was inspiriert dich für deine Artikel?

IJR: Seit ich denken kann, habe ich geschrieben. Ohne Stift und Notizbuch gehe ich im Regelfall nicht aus dem Haus; da kann es schon mal passieren, dass ich auf halber Strecke wieder umkehre, falls ich rechtzeitig bemerke, es nicht eingesteckt zu haben. Ich habe das intrinsische Bedürfnis, Ideen, Beobachtung, Gedanken sofort aufzuschreiben, in der Stimmungslage und Situation, in der sie entstehen, um sie nicht zu vergessen. Zudem habe ich bereits während meiner Schulzeit als Jugendreporter für lokale Tageszeitungen gearbeitet und habe lange mit dem Gedanken gespielt, Vollblut-Journalistin zu werden. Aber nun ja, es kommt ja immer anders als man denkt! (lacht).

Vor circa einem Jahr habe ich dann begonnen, bereits erschienene Artikel und Medienfeatures auf ijroth.com zu hinterlegen, damit ich einen Link weiterschicken kann und keine PDF-Dateien mehr per Email versenden muss. Je mehr ich gepostet habe, desto mehr habe ich mit dem Medium Blog experimentiert – und bin immer noch mittendrin. Auf ijroth.com berichte ich einerseits weiterhin in Artikelform über mein Leben in Indien, aber auch über Trends, herausragende Blogs und gute Werbekampagnen. Zudem startet in Kürze ein ‚Gründertagebuch’, in dem ich regelmäßig in Wort und Bild über den Aufbau von Avantgarde India berichte. Es lohnt sich also, reinzuschauen! (lacht)

Was mich dabei inspiriert? Alles, was um mich herum passiert. Und das ist in Indien nicht sonderlich schwer – das Leben und mein Job offenbaren, auch wenn ich nun schon seit drei Jahren im Lande bin, jeden Tag ein Feuerwerk an neuen Impressionen.

IW: Und was machst du, wenn du nicht arbeitest? Oder anders gefragt: Was sind deine „Genussprojekte“?

IJR: Zum Glück bin ich in der wunderbaren Situation, alles was mir Freude bereitet, auch in meinem Job umsetzen zu können! Daher kann man sagen, ich arbeite immer – denn selbst das Lesen und Schreiben, das Treffen von Freunden und Bekannten, Kino und gutes Essen, dies könnte man wohl alles als ‚Genussprojekte’ betiteln, haben als Inspirationsquelle und Beobachtungs-Schauplatz (z.B. warum Inder kein Problem damit haben, selbst im Kino non-stop zu telefonieren) einen festen Platz in meiner Tages-Agenda. Ich bin primär immer Isabelle, egal ob privat oder im Job – und meine Arbeit ist existentieller Bestandteil meines Lebens.

IW: Was könnte unsere Leser noch interessieren?

IJR: Das musst ihr sie doch selber fragen! (lacht) Ich freue mich auf jeden Fall über Feedback und Rückmeldungen per e-mail (isabelle-jasmin.roth@avantgarde.de), Facebook oder über ijroth.com.

IW: Alles Gute für die neue Aufgabe! Indische Wirtschaft wird weiterhin über Avantgarde India und die Arbeit des Trendbüros berichten.

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Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler

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