Chai (= der indische Milchtee) ist das Nationalgetränk Indiens – vergleichbar mit Kaffee in Wien. Alle 2-3 Stunden gibt es Chai: nach dem Aufstehen, in der Arbeitspause, nach dem Essen, am Nachmittag, vor dem Abendessen, vor dem Schlafen gehen. Wenn man gerade nicht zu Hause ist, geht man zum nächsten Tee-Stand um die Ecke oder man stoppt einfach den erstbesten Chai-Wallah – fliegende Teeverkäufer, die lautstark durch die Straßen ziehen. Egal ob in den Metropolen Delhi, Bombay oder Kalkutta, in irgend einer der 100.000 Kleinstädte oder in Dörfern, Chai gibt es immer und das für 1-5 Rupien pro Portion.
Lassen Sie uns durch ein einfaches Rechenbeispiel diesen Markt (im unorganisierten Sektor) abschätzen.
Wir legen folgende Annahmen zu Grunde:
– Indien hat 1,15 Milliarden Einwohner; das Jahr 365 Tage (klar!)
– Jeder Zweite trinkt täglich 1 Glas Milchtee auf der Straße (das ist absolut konservativ geschätzt, siehe oben)
– Der durchschnittliche Verkaufspreis pro Portion beträgt 2 Rupien (3 Cent)
Aus diesen Annahmen ergibt sie ein Marktvolumen von etwa 6 Milliarden Euro pro Jahr (400 Milliarden Rupien) für den informellen Sektor der Chai Verkäufer Indiens (ohne Gastronomie und Handel). Dieser Markt ist etwa 10 mal größer als Österreichs Volkswirtschaft jedes Jahr nach Indien exportiert (etwa 600 Millionen Euro).
Dieses Beispiel zeigt ganz gut was „Economy of Scale“ in Indien bedeutet. Ein Produkt um umgerechnet 3 Cent kann einen Milliarden-Markt darstellen
.
Die Deckungsbeiträge sind wie immer in Indien sehr knapp kalkuliert. Trotzdem wird die klassische Wertschöpfungskette bedient: Produktion (Teeanbau, sowie Milchwirtschaft und Zuckerproduktion), Verarbeitung, Großhandel, Zwischenhandel, Teeküche etc.
Ausgehend von diesem Marktvolumen kann man wieder auf die Anzahl der Chai-Verkäufer schließen, also jene Personengruppe die DIREKT ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Tee auf der Straße verdient:
Wenn der Chai-Wallah täglich 3 Euro Nettogewinn (Monatseinkommen von 100 Euro ist realistisch) macht, und wir von einer Spanne von 10% ausgehen, muss er jeden Tag 2000 Rupien Umsatz erwirtschaften, um davon leben zu können. Daraus resultiert, dass in Indien der Straßenteestand die Lebensgrundlage für 500.000 Teeverkäufer und ihre Familien ist.
Zur Kontrolle: Auf jeden Teeverkäufer kommen etwa 1000 Kunden – das klingt realistisch.
Für Handel und Gastgewerbe in Indien gilt also folgendes Erfolgsrezept: Man nehme ein knallhart-kalkuliertes Produkt für den Massenmarkt, nützt Vertriebskanäle im informellen Sektor (Vertrieb & Service durch Mikrobetriebe wie zum Beispiel fliegende Teeverkäufer) und rollt den Vertrieb über ganz Indien aus.
Dieses Beispiel mag auf den ersten Blick nicht duplizierbar sein, ist aber auf fast alle Geschäftsmodelle im indischen B2C Handel anwendbar. Alle erfolgreiche Markenartikel-Unternehmen (Food, Non-Food) arbeiten nach dem gleichen Prinzip: In jedem Dorf in Indien gibt es Coca-Cola, für jeden leistbar, Indien hat 500 Millionen Mobilfunkkunden, es gibt Grundversorgung mit günstigen Medikamenten, Pflegeartikel in Kleinstpackungen oder auch im Elektronikbereich. Philips verkauft jedes Jahr in Indien 1,2 Milliarden Glühbirnen, ist aber nur ein Marktteilnehmer.
(Wolfgang Bergthaler)
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