Devdutt Pattanaik ist einer der führenden Mythologen Indiens. Er hat 23 Bücher veröffentlicht, ist gefragter Redner auf Konferenzen und schreibt jeden Sonntag eine Glosse im "Mumbai Mirror".

Mythologe Devdutt Pattanaik im Gespräch mit „Indische Wirtschaft“

Devdutt Pattanaik ist einer der führenden Mythologen Indiens. Er hat 23 Bücher veröffentlicht, ist gefragter Redner auf Konferenzen und schreibt jeden Sonntag eine Glosse im "Mumbai Mirror".
Devdutt Pattanaik ist einer der führenden Mythologen Indiens. Er hat 23 Bücher veröffentlicht, ist gefragter Redner auf Konferenzen und schreibt jeden Sonntag eine Glosse im "Mumbai Mirror".

„Es gibt keine Unternehmenskultur im klassischen Sinne – die Kultur eines Unternehmens wird bestimmt durch die Mitarbeiter“, sagt Devdutt Pattanaik. Zumindest in Bezug auf den südasiatischen Raum weiß er, wovon er spricht: Als einer der bekanntesten Mythologen Indiens hat er in seiner Heimat 23 Bücher veröffentlicht, ist gefragter Redner auf Konferenzen und berät Unternehmen zu kulturellen Unterschieden. Dabei geht er nicht nach einer stumpfen, oberflächlichen Dos&-Don’ts-Liste vor, sondern gräbt tiefer: Pattanaik dekodiert hinduistische Mythen und erklärt so die moderne indische Gesellschaft. Und ausländische Unternehmen auf dem Weg nach Indien warnt er: „Wenn Unternehmen glauben, ihre eigene Vorgehensweise sei die einzig richtige, dann fangen die Probleme an.“

Denn hier beginnt bereits der Unterschied zwischen hinduistischen und westlichen, monotheistisch geprägten Kulturen: Europäer sind geprägt von der Idee, dass es nur eine Wahrheit gibt – in der Religion gilt das geschriebene Wort als wahr, und an Gesetze muss sich Jeder halten
. In Indien hingegen gibt es viele Wahrheiten: Das Göttliche kann sich in verschiedenen Gottheiten manifestieren – je nachdem, ob gerade eine Göttin des Geldes oder ein Gott der Stärke gebraucht wird. Im Gegensatz zur „objektiven Wahrheit“ des Westens gibt es in Indien die „subjektive Wahrheit: Hinduistische Mythen werden unterschiedlich interpretiert, Jeder zieht seine eigenen Rückschlüsse.

Und das schlägt sich auch im Alltag nieder: „Sehen Sie sich um“, sagt Pattanaik, während sein Auto sich durch den hektischen Verkehr Bombays manövriert: Ampeln und Zebrastreifen werden ignoriert, Motorradfahrer tragen keinen Helm, Rikschas fahren gegen die Einbahn – und dennoch passieren kaum Unfälle. „Denn westliche Kulturen vermeiden Fehler, indem sie sich an Regeln halten“, sagt Pattanaik: „Hier macht Jeder seine eigenen Regeln – und achtet, wachsam wie ein Soldat, permanent auf sich und sein Umfeld.“ Auf westliche Beobachter mag dieser Ameisenhaufen aus Individuen chaotisch wirken – für Inder macht er Sinn.

Planen ist zwecklos

Und Inder planen ungern – womit sie in starkem Gegensatz zu planungsverliebten Managern aus dem deutschen Sprachraum stehen. „Hintergrund ist der grundsätzliche Gedanke, dass jede Situation bestimmt wird durch den Menschen und sein Umfeld“, sagt der Mythologe: „Beide beeinflussen einander.“ Ein Inder und ein Österreicher würden sich in einem Gespräch unterschiedlich verhalten und die Situation somit beeinflussen – ebenso verhält sich ein Manager aus Österreich anders, wenn er als Expat nach Indien entsandt wird; denn die Herausforderungen sind andere. „Entsprechend befindet sich unsere Welt in konstantem Wandel“, sagt Pattanaik: „Und deswegen planen wir so ungern.“

Damit einher geht eine gewisse Gelassenheit in Bezug auf wirtschaftliche Veränderungen: „Eine Krise ist nichts Neues“, sagt Pattanaik: „Es wird immer Boom-Phasen und Rezessionen geben – das ist ein Kreislauf“. Auf diese Weise hat dieses Land mit über einer Milliarde Einwohnern, einer gewaltigen Armut, sowie religiöser und ethnischer Vielfalt noch keine Krisen erlebt: Man akzeptiert, dass die jeweilige Situation gerade nicht rosig ist – aber ein Aufschwung wird schon wieder kommen.

„Rufen Sie mich an“

Die Kontaktaufnahme mit Pattanaik im Vorfeld des Interviews erfolgte per Email; und wenige Sekunden später kam seine Antwort, man solle ihn doch bitte anrufen. Das Gespräch gestaltete sich entsprechend als mühsam – beide Seiten hatten Mühe, die in Indien omnipräsente Geräuschkulisse zu übertönen. Das ist Alltag in den hektischen südasiatischen Metropolen; und dennoch besprechen indische Manager Geschäftliches lieber telefonisch, als es per Email schriftlich zu fixieren. „Wir sind eine orale Kultur“, sagt Pattanaik. Vor der Ankunft der Briten seien hinduistische Weisheiten meist mündlich überliefert worden; erst die Kolonialherren definierten die „Rig Veda“ als das erste Buch des Hinduismus – weil sie das geschriebene Wort brauchten, um sich zu orientieren. „Wir reden gerne und lösen so unsere Konflikte“, sagt Pattanaik: „Das ist effektiver als schriftliche Verträge, die jederzeit gebrochen werden können.“ Freilich können ausländische Unternehmen Leistungen in Indien einklagen – aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Gerichtsprozesse in Indien gut zehn Jahre dauern können.

Durch all diese Aspekte klinkt sich Indien quasi komplett aus dem westlichen, säkularen, monotheistisch geprägten Denken aus. „Kapitalismus und Kommunismus sind quasi Zwillinge, die sich Beide auf geschriebene Worte und objektive Wahrheiten berufen“, sagt Pattanaik: „Wir hingegen sagen, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit schafft – basierend auf dem, was er erlebt und gehört hat.“ Wer in Indien Geschäfte machen möchte, sollte dies entsprechend im Hinterkopf halten – und sich auf eine vollkommen andere Denkweise einstellen.

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Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler

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