Indien als Paradoxon!?

In Indien muss man sich nicht für eine Seite entscheiden, sondern lässt sich gerne mehrere Optionen offen und kann so verschiedene – mitunter sich widersprechende – Meinungen akzeptieren/integrieren, während wir in Europa stets eine Lösung fordern und akzeptieren können. Diese Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit spiegelt sich nicht nur in der Kultur und Mythologie wider, sondern durchdringt alle Bereiche des täglichen Lebens.

Indiens Rolle in der Weltpolitik: ZWISCHEN den Systemen

Ohne sich einen der beiden Systeme anzuschließen, verfolgte Indien schon in der Zeit des Kalten Kriegs die Politik der Blockfreiheit. Man wollte eine „neutrale“, souveräne Position einnehmen und so primär die eigenen nationalen Interessen verfolgen.

Heute wird Indien dafür kritisiert, dass es sich nicht von Russland distanziert und sogar noch Vorteile aus dem Ukrainekrieg und den Sanktionen gegen Russland ziehe1. Indien wird beschuldigt, westliche demokratische Werte zu predigen und gleichzeitig, quasi hinterrücks, mit Autokratien – insbesondere Russland, aber punktuell auch mit dem Erzfeind China – zu kooperieren.

S. Jaishankar im ZIB2-Interview vom 2.1.2023

Andererseits beschuldigt Indien Europa für seine Doppelmoral – exemplarisch der Auftritt des indischen Außenmininister S. Jaishankar im ZIB2-Interview mit Armin Wolf (siehe Youtube Video links).

Anhand dieses tagespolitischen Beispiels lässt sich gut verstehen, wie Indien mit Paradoxien zurechtkommt und sich typischerweise alle Optionen offenhält. Ein Paradoxon ist eine scheinbar widersprüchliche Aussage oder Situation, die sich bei genauerer Betrachtung als wahr herausstellt. So kann man auch im Westen einiges lernen, wenn man die indische Position hört und ihr – auch im Kontext des Ukrainekriegs – zugesteht, dass sie ihre nationalen Interessen, zum Wohle der eigenen Bürger und Volkswirtschaft verfolgt.

„Sowohl, als auch“ im Business

Abseits der großen Weltpolitik treffen wir die indische Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeit umzugehen, auch im täglichen Geschäftsleben und der Zusammenarbeit mit unseren indischen Kunden, Lieferanten oder Mitarbeitern.

Die kulturelle Vielfalt Indiens spiegelt sich auch in den Konsumgewohnheiten, Präferenzen und Bedürfnissen der Verbraucher wider. Daher ist die indische Agilität und Flexibilität für einen so dynamischen und komplexen Markt wie Indien von Vorteil und führt zu Innovation.

Andererseits können diese Mehrdeutigkeit uns Europäer auch schon mal (über)fordern, insbesondere in der Personalführung oder bei der Beschaffung von Informationen.

Aus Indien werden wir immer wieder widersprüchliche Aussagen erhalten. Die Analyse von Paradoxien kann uns aber helfen zu einem tieferen Verständnis der betreffenden Situationen zu kommen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst.

Das bedeutet auch, dass es nicht aussichtslos ist, in Indien belastbare Daten zu erhalten und Pläne zu entwickeln. Das heißt lediglich, dass man in Indien flexibler, agiler und schneller agieren muss als in allen anderen Märkten dieser Welt.

Indien ist also nicht paradox, sondern nur etwas (mehr) VUCA!

  1. https://orf.at/stories/3306668/ ↩︎

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Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler