Am Wochenende musste der indische Minister für Telekommunikation zurücktreten. A. Raja ist in den größten Korruptionsfall in der indische Wirtschaftsgeschichte verwickelt. Ihm wird vorgeworfen Budget-Einnahmen von bis zu 40 Milliarden US-Dollar nicht realisiert zu haben. Bei der Vergabe von GSM-Lizenzen gab es 2008 keine Versteigerung an die Bestbieter, sondern diese wurden einfach an die erstbesten Interessenten, weit unter ihrem vermeintlichen Marktwert, verkauft.
Täglich grüßt das Murmeltier. Indien hat wieder einmal seinen Korruptionsskandal und alle fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt: Korruption ist das schlimmste Übel des Landes. Sie (ver)hindert fairen Wettbewerb und damit ein volkswirtschaftliches und soziales Optimum.
In Indien gehen Selbst- und Fremdwahrnehmung oft weit auseinander
. Quer durch alle Schichten verteufelt jeder Einzelne, egal ob Angestellter, Unternehmer oder Politiker, das Übel der Korruption – vor ihr gefeit sind aber die Wenigsten.
Was wir Europäer unter „Korruption“ verstehen, ist für die Inder ein legitime Provisions-Geschäft: Ein Verkäufer, Zwischenhändler, Mittelsmann, Tippgeber oder Lobbyist bekommt Geld dafür, dass er ein Geschäft ermöglicht, einen Deal einfädelt oder eine (Kauf-)Entscheidung beeinflusst. Die Inder sind bekannt dafür, dass sie ausgesprochen geschickte Händler sind.
Aus unternehmerischer Sicht gibt es grundsätzlich keinen Unterschied zwischen
- dem Taxi-Fahrer, der einen Touristen „gratis“ vom Flughafen zum Hotel fährt und dann vom Hotelier eine „Vermittlungs-Provision“ bekommt,
- dem Verkaufsagenten oder (selbst-ernannten) „Berater“, der Information zurückhält oder Kontakte nicht teilt, und sich so einen finanziellen Vorteil erhofft,
- dem Mitarbeiter, der auch gerne mal auf eigene Rechnung mit dem Lieferanten seines Arbeitgebers zusammenarbeitet und
- den Politkern und Bürokraten, die im übersteigerten unternehmerischen Ehrgeiz lieber auf ihre finanziellen Gönner aus der Wirtschaft hören, als dem Volk und Staat zu dienen.
Sie alle agieren mit der gleichen unternehmerischen Einstellung – mit dem kleinen Unterschied, dass man als Mitarbeiter seinem Arbeitgeber und als Politiker der Allgemeinheit verpflichtet ist. In gewisser Weise sind Inder unternehmerisch oft zu ambitioniert – zumindest wenn sie in Verwaltung und Politik tätig sind. Viele Politiker agieren als (Einzel- bzw. Familien) Unternehmen. Aber so viel Unternehmertum tut dem Staat und der Wirtschaft nicht gut.
(Kommentar von Wolfgang Bergthaler; aktuell aus Delhi)
Eine umfassende Analyse zum Thema Korruption in Indien finden Sie im Fachartikel: Korruption in Indien – ein heikles Thema mit vielen Facetten
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