Während die westliche Welt die Folgen der aktuellen Finanzkrise verarbeitet, schwingt sich der Finanz-Kapitalismus in Indien zu ungeahnten Höhen auf. Dort liegt die Gefahr aber nicht in neoliberaler Wirtschaftspolitik, freiem Bankensektor und unregulierten Finanzmärkten. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt wohl wenige Regierungen und Nationalbanken, die eine dermaßen konservative Politik fahren.
Ka-Ching!
Der Hype, der seit knapp zehn Jahren um die indische Wirtschaft und deren konsumfreudige Mittelschicht in den boomenden Metropolen entstanden ist, bietet(e) einige in der Wirtschaftsgeschichte einzigartige Möglichkeiten schnell viel Geld zu verdienen.
Die Wirtschaft brummt und alle Indikatoren deuten auf Aufschwung beziehungsweise Boom: Auftragsbestände und Konsum steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt, Einkommen wachsen kräftig, die Sparquote ist gering, Zinsen steigen und es herrscht relativ hohe Inflation – zusätzlich fließen massiv Auslandsinvestitionen ins Land.
(Not) Everyone’s a winner!
Wer vor ein wenigen Jahren das Glück hatte, etwas mehr Geld (ob schwarz oder weiß sei dahin gestellt) zu verdienen als zum Leben nötig und dieses am Finanzmarkt oder in Immobilien investiert hat, konnte quasi nichts falsch machen. Wahrscheinlich hat er/sie damit heute finanziell schon ausgesorgt – zumindest so weit, dass er/sie keiner Lohnarbeit mehr nachgehen, sondern nur mehr seine/ihre Investments managen muss.
Der indische Aktienindex SENSEX hat sich von 2003 bis 2008 versechsfacht und, nach einem kurzen Zwischentief während dem Höhepunkt der Finanzkrise, von Anfang 2009 bis heute mehr als verdoppelt.
Die Immobilien-Preise haben sich näherungsweise parallel zur Börse entwickelt – ohne aber die Abwärtsbewegung 2008 mitzumachen
. So hat sich der „Wert“ einer Vorsorgewohnung in guter Lage in den letzten Jahren auf jeden Fall vervielfacht. Heute kosten Immobilien in Delhi, Mumbai oder Bangalore mehr als Top-Innenstadt-Lagen in Hamburg, München oder Wien.
Money for Nothing
Dieses Auseinanderdriften von Kapital- und Arbeitseinkommen führt derzeit unter den gut gebildeten aber in regulären Jobs „gefangenen“ weil risikoaversen Indern zu massiver Unzufriedenheit. Während die „Spekulanten“ keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgehen müssen, mit diversen Geschäftsideen experimentieren und ihren Reichtum zur Schau stellen, müssen alle Angestellten täglich hart arbeiten um ihren Lebensstandard zumindest zu halten. Das ist nicht einfach in den täglich teurer werdenden Städten.
Damit profitieren jene am wenigsten vom steigenden Wohlstand, die ihn eigentlich durch ihre Arbeit und ihren Konsum ermöglichen: der Mittelstand, die Ingenieure in den Softwarefirmen, die Tag und Nachts arbeitenden Callcenter-Agents und alle anderen fleißigen Arbeitsbienen. Trotz Lohnsteigerungen von 10 bis 15% pro Jahr haben sie einen Grund für ihre Unzufriedenheit. Die Neureichen erzielen ein Vielfaches ihres Einkommen – ganz ohne Arbeit. Eine neue Erfahrung für Menschen, deren Stand und Ansehen Jahrhunderte lang durch (1) Kastenzugehörigkeit, (2) Bildung, (3) harter Arbeit manifestiert wurde, und nicht durch Geld und Einkommen.
Money changes everything
Diese Entwicklung ist nicht unproblematisch, sozial wie wirtschaftlich. Leute, die schnell zu viel Geld kommen, wird oft Arroganz und Realitätsverlust nachgesagt. Zumindest besteht auch hier die reale Gefahr, dass diese Gruppe eine abgehobene Parallelgesellschaft bildet. Auch keine gesunde Entwicklung für eine Gesellschaft, die heute schon durch massive Einkommensunterschiede, sprachliche Barrieren, seine hierarchische Gesellschaftsordnung, religiöse Unterschiede und das Kastensystem ziemlich isoliert nebeneinander, statt miteinander, lebt.
Wirtschaftlich gesehen wird die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer, Wohnraum für den Normalbürger unerschwinglich, das nachhaltige Wachstum gefährdet und vor allem die Gefahr einer spekulativen Blase immer realer.
Und genau das war auch die Hauptursache für die derzeitige Wirtschaftskrise: der dramatischen Unterschied zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen. Während es beim Kapital ein exponentielles Wachstum gab, war es bei den Arbeitseinkommen nur ein lineares. Diese Schere ist immer weiter auseinander gegangen. Was wir jetzt mit der Finanzkrise sehen, ist ein unkontrollierter Ausgleichsvorgang, wie bei einem Erdbeben. Davor hat in Indien noch keiner Angst. Aber unverhofft kommt oft.
(Ein Kommentar von Wolfgang Bergthaler)
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.