Wenn Pareto versagt…

Nicht immer genügt die indische Effizienz. So kann zum Beispiel ein schwaches Glied in der Prozesskette die gesamte Wertschöpfung zu Nichte machen. Wenn ein Prozess nur zu 80% perfekt ist, hat das mitunter fatale Folgen. Dazu möchte ich ein Erlebnis erzählen, das ich unlängst auf einer meiner längeren Zugfahrten durch Indien hatte.

Der Zug rattert bereits fast zwanzig Stunden durch die Landschaft. Am frühen Nachmittag wird an hunderte hungrige Fahrgäste das Mittagsmenü verteilt: Biryani (ein Reisgericht) beziehungsweise ein Thali-Meal bestehend aus Dhal (Linsen), Sabzhi (Gemüse), Reis und Chapatti – alles einzeln in Aluminium-Tassen verpackt und mit Folie abgedeckt
. Nicht gerade umweltfreundlich, aber was soll’s. Ich esse ausgewählte Teile meines „Veg-Meals“ und packe danach all den Alu-Müll zusammen um ihn dann selbst in den Mülleimer am Ende des Waggons zu entsorgen. Viele meiner mitreisenden Fahrgäste tun es mir gleich und sammeln ihren Müll. Da sich der gemeine Inder selbst die Finger nicht gerne schmutzig macht, bringen die Laufburschen der Indian Railways die Metall-Abfälle ebendort hin. Toll, denke ich mir, endlich halten Abfallentsorgung und Recycling Einzug in Indien. Etwas realistischer aber trotzdem zufrieden denke ich mir: Das könnte aber auch daran liegen, dass durch die versiegelten Scheiben im klimatisierten Abteil niemand seinen Müll einfach aus dem Fenster kippen kann, so wie alle anderen Reisenden der billigeren Sleeper-Class. Oder die Leute sind hier einfach gebildeter als die Massenmarkt-Inder auf den billigen Rängen. Wie auch immer – nach einer halben Stunde finden sich fast alle Aluminium-Abfälle im beziehungsweise um den Müll-Eimer herum. Ich bin jedenfalls einigermaßen begeistert von neuen Umwelt-Bewusstsein und und der kollektiven Müllentsorgung. Noch vor ein paar Jahren hätten die Leute ja einfach alles während der Fahrt beim Fenster rausgeworfen.

In der Zwischenzeit hält der Zug an einer großen Haltestelle, hunderte Passagiere kommen und gehen, der Müll bleibt. Im Optimalfall hätte man hier den Müll einfach ausladen können, denke ich mir. Weil ich aber Unordnung in Indien gewohnt bin, stört mich der Aluminium-Berg im Durchgang wenig.

Kaum ist der Zug wieder in voller Fahrt kommt ein Schani (österreichisch für niedriger Laufbursche) der Indian Railways, öffnet die schwere Metalltüre des Waggons um dann denn Müll-Eimer mit all den gesammelten Aluminium-Abfällen einfach in die Landschaft zu kippen. Mit offenem Mund muss ich mir hilflos diese Aktion ansehen. All meine Tagträume einer umweltfreundlichen Mittelklasse und grünen Bundesbahn sind zerplatzt. Meine Gefühlslage pendelt zwischen Zorn, Aggression, Unverständnis und Resignation.

Ich lasse nochmals die letzte Stunde Revue passieren: Der „Entsorgungs-“Prozess war quasi perfekt. Der Müll wurde an einer zentralen Stelle gesammelt – nichts aus dem Fenster geworfen. So einfach hätte man den Müll am Bahnsteig übergeben und „entsorgen“ können. Alles war (für indische Verhältnisse) perfekt – aber eben nur 80% – bis dann aller Aufwand durch einen kleinen Prozessfehler zu Nichte gemacht wurden. Dieses Erlebnis lehrt mich, dass das Pareto-Prinzip nicht immer genügt und dass das indische Schienennetz wahrscheinlich die größte Müllhalde der Welt ist.

(Kommentar von Wolfgang Bergthaler)

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Wolfgang Bergthaler

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