Nehmen wir an, Sie gehen heute Abend mit Ihrer/Ihrem Liebsten fein Essen, zum Beispiel zum Italiener ums Eck oder in das kleine französische Restaurant in der Stadt. Sie werden sich an einem fein gedeckten Tisch wieder finden: weiße Tischdecke, gestärkte Stoffservietten, Wein- und Wasserglas sowie mehrere Sets Essbesteck.
Bon Appetit!
Sie nehmen Platz, die Atmosphäre ist gediegen. Es ist ruhig, nur im Hintergrund hören Sie angenehme Klaviermusik. Sie entscheiden sich für das sechs-gängige Menü. In den kommenden zwei Stunden bringt der Kellner einen Gang nach dem Anderen: zuerst Vorspeise, dann Suppe, noch etwas Salat vom Buffet, einen kleinen Fisch-Teller, sowie die Hauptspeise, gefolgt von einer unwiderstehlichen Nachspeise. Jedes Gericht ist wunderschön angerichtet … Fleisch, Soße, Beilagen … alles farblich abgestimmt – jede Speise ist ein kleines Kunstwerk. Dazu gibt es jeweils den passenden Wein. Sie werden vom Koch schön langsam durch (s)eine kulinarische Welt geführt und genießen nacheinander verschiedene Geschmäcker und Köstlichkeiten der Toskana beziehungsweise der Provence.
Namaste!
Versetzen Sie sich nun nach Indien. Sie betreten ein Restaurant in Mumbai, Delhi oder Bangalore. Tausende exotische Gerüche begrüßen Sie in einer anderen Welt. Es herrscht Hochbetrieb und es ist laut. Sie müssen warten. Schließlich bekommen Sie einen Sitz-Platz und bestellen das „Menü“, ein so genanntes Thali. Im Gegensatz zum Italiener ums Eck bekommen Sie in Indien – innerhalb von wenigen Minuten – das gesamte Menü auf einmal auf einer großen Platte beziehungsweise Bananenblatt, serviert. Da finden Sie nun bis zu zwanzig verschiedene Gerichte: zahlreiche Soßen, so genannte Currys: vegetarisch oder mit Fleisch, Gebackenes, Gebratenes, Geschmortes, Gegrilltes sowie verschiedene Linsen-Gerichte und Suppen. Dazu Fladenbrote in verschiedenen Variationen, zwei Sorten Reis, rohes Gemüse (Salat) und so weiter und so fort. Die Geschmäcker reichen von mild, scharf über salzig, sauer bis zu süß. Es gibt Heißes und Kaltes, Rohes und Gekochtes, Fettiges und Gesundes – alles auf einem einzigen Teller, durcheinander.
Das Mahl kann beginnen. Sie mischen mit Ihren Fingern je nach Ihren Vorlieben den Reis mit diversen Soßen und essen Currys mit Fladenbroten. Was Sie schmecken, bestimmen nun Sie – je nachdem wie Sie die einzelnen Komponenten abstimmen. Ihr(e) Partner(in) wird das gleiche Thali etwas anders abmischen und daher auch etwas anderes schmecken. Nach einer guten Viertelstunde sind Sie fertig, satt und zufrieden. Sie finden sich vor ihrer Platte, das eher aussieht wie ein Schlachtfeld denn ein Teller.
Was uns das Essen über die Kultur verrät
Essen ist ein wichtiger Teil der Kultur und visualisiert viele kulturelle Eigenheiten. Das Candle-Light-Dinner ist ein gutes Abbild der westlichen Kultur. Das Mahl ist strukturiert, läuft organisiert ab und sieht obendrein auch noch schön aus. Die Prozesse sind reproduzierbar und qualitätsgesichert. Der Geschmack ist absolut und eindeutig. Jeder Gast hat das gleiche Geschmackserlebnis, nämlich jenes das der Koch vorgibt.
Bitter-Sweet Symphony
Indien ist alles auf einmal – chaotisch aber köstlich. Wie das Thali süß, sauer und scharf gleichzeitig ist, so ist auch das Leben heiß und kalt auf einmal
. Freud und Leid, Gut und Böse, Reich und Arm, hässlich und schön – alles findet gleichzeitig statt. Das Leben ist immer voller Überraschungen, unberechenbar und schmeckt jeden Tag anders, bunt und scheinbar durcheinander. Sie entscheiden was Sie sich herauspicken und was Sie wahrnehmen wollen. Was Sie daraus machen liegt an Ihnen. Sie mischen das Leben. Das Leben (in Indien) ist ein Thali! Genießen Sie es!
(Wolfgang Bergthaler)
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