Die Chaostheorie

Indien wird gerne als chaotisch bezeichnet, was immer das heißen mag. Alles ginge hier drunter und drüber: der Verkehr, der Alltag in den Städten, die Arbeitswelt. Nirgends scheint es eine Ordnung zu geben, nicht mal im Geschäftsleben. Märkte sind unorganisiert, die Wertschöpfungsketten nicht als solche erkennbar, es gibt keine funktionierende Logistik und kein Qualitätsmanagement. Die Kommunikation erfolgt mündlich und dokumentiert wird sowieso nichts. Es gibt weder effiziente Prozesse noch effektive Strukturen. Zu alledem ist auch noch der Preis Verhandlungssache
. Kurz: es reagiert das Chaos – zumindest aus europäischer Perspektive.

Stellen Sie sich nun einen typisch indischen Basar vor. Hunderte Händler bieten tausende Waren feil. Alle Verkaufsstände sind gerammelt voll: Stoffe, Nahrungsmittel, Gewürze, religiöse Gegenstände, Elektronik, Hardware, Spielzeug, Musik, Kosmetik, Antiquitäten, Kunsthandwerk und so weiter und so fort. Die Menschenmengen drängen sich durch die engen Gassen zwischen den Ladenzeilen. Die Verkäufer werben lautstark um ihre Kunden. Es gibt jede Art von Ramsch, aber auch hochwertige Qualitätsprodukte. Die Auswahl ist unüberschaubar und sie denken sich „wer soll das alles kaufen“. Doch die Leute kaufen. So unterschiedlich die Produkte, so unterschiedlich die Kunden. Am Ende des Tages sind alle zufrieden. Die Händler verkaufen all ihre Ware und nehmen eine Menge Geld nach Hause; die Käufer sind glücklich mit ihren erstandenen Objekte.

Alle bekommen was sie wollten. Aus indischer Perspektive gibt es also kein Chaos. Der Markt funktioniert, folgt aber anderen Verhaltensmustern. Diese werden von Europäern jedoch nicht verstanden. Was für uns chaotisch sein mag, mag in Indien absolut Sinn machen und funktionieren. Versuchen Sie, anstatt zu urteilen, das indische System zu verstehen, oder zumindest zu akzeptieren. Es ist weder besser noch schlechter, sondern einfach anders.

(Wolfgang Bergthaler)

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