Es ist ein Rekord für Indien – allerdings einer, den viele andere Nationen belächeln dürften. Als Boxerin Mary Kom in London Bronze holte, war das die vierte Medaille für das nach China bevölkerungsreichste Land der Welt.
Der Indian Express feierte die “beste Show Indiens jemals bei Olympia”. Tatsächlich lag die bisherige Spitzenleistung bei dreimal Edelmetall, erkämpft in Peking 2008. Seit der Unabhängigkeit vor 65 Jahren haben Inder insgesamt nur magere 19 Olympia-Medaillen gewonnen. US-Weltklasseschwimmer Michael Phelps bringt es alleine auf 22 Medaillen.
Ein Blick auf den aktuellen Medaillenspiegel lässt erahnen, dass Indien zwar eine aufstrebende Regionalmacht sein mag, aber ganz sicher keine große Sportlernation ist. Nach mehr als zwei Drittel der 302 Entscheidungen liegt Indien mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern in der Region von Armenien und der Mongolei und hinter der Dominikanischen Republik. China, mit dem sich Indien auf anderen Feldern gerne misst, hat 20 Mal mehr Medaillen und kämpft mit den USA erneut um den Sieg in der Länderwertung. Gold für Indien gab es zuletzt 2008 in Peking – und davor 1980 in Moskau. In Athen (2004) und in Sydney (2000) gewann Indien jeweils nur eine einzige Medaille.
Kaum verwunderlich, dass alle vier Jahre die Diskussion darüber aufflammt, warum die olympischen Leistungen der Inder so dürftig sind – die New York Times schrieb 2008 von einer «rätselhaft unsportlichen Nation». Manche Erklärungsversuche muten absurd an. So zitierte die eigentlich seriöse Times of India nach den Spielen von Athen einen Stoffwechselexperten, der seine Landsleute schlicht für zu dick hielt: Er machte einen genetisch bedingten überdurchschnittlichen Körperfettanteil für das schlechte Abschneiden verantwortlich.
Andere Gründe sind plausibler. Experten verweisen darauf, dass die Ausgangsvoraussetzungen für potenzielle Sportler auf dem Subkontinent viel schlechter sind als im Westen oder in China. Laut Weltbank leben immer noch 400 Millionen Inder in Armut, viele Kinder sind unterernährt. Infrastruktur ist besonders außerhalb der Metropolen unterentwickelt, Sportstätten sind rar. Die Nachrichtenagentur IANS berichtete im vergangenen Jahr von nationalen Wettkämpfen im Bundesstaat Jharkand, für den Schwimmer mangels Pool auf dem Trockenen trainieren und Sportschützen ohne Munition üben mussten.
Zudem kennen sich Verbandsfunktionäre mit Sport oftmals gar nicht aus. Die Posten, die kostenlose Auslandsreisen mit sich bringen, werden gern von Politikern besetzt. Sportförderung ist in Indien kaum existent. Die einzige Sportart, bei der gigantische Summen fließen, ist Kricket. Dort sind die Inder Weltklasse – aber Kricket ist keine olympische Disziplin. Die allgegenwärtige Korruption schließlich macht auch vor dem Sport nicht halt, wie die Commonwealth Games 2010 (CWG) in der Hauptstadt Neu Delhi bewiesen.
Der Vorsitzende des CWG-Organisationskomitees, der Abgeordnete Suresh Kalmadi von der regierenden Kongresspartei, muss sich wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten. Nach neun Monaten Untersuchungshaft wurde er Anfang des Jahres auf Kaution entlassen. Kalmadi ist auch Präsident der Indischen Olympischen Vereinigung (IOA). Die Amtsgeschäfte hat inzwischen zwar ein anderer Politiker kommissarisch übernommen, der – wie auch Kalmadi – zuvor nicht als Sportler in Erscheinung getreten war. Zumindest auf dem Papier ist Kalmadi aber weiterhin IOA-Präsident, weil sich die Vereinigung bislang nicht zur Wahl eines Nachfolgers durchringen konnte.
Dennoch sind Experten wie der Sportkommentator V. Krishnaswami nicht durchweg pessimistisch. Sportarten außerhalb von Kricket wie Badminton oder Boxen würden in Indien zunehmend populär, sagt er
. Bis sich das aber in olympischen Medaillen niederschlage, werde es noch 10 bis 15 Jahre dauern. Und der Diskuswerfer Vikas Gowda – der in London den achten Platz belegte – meint, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Indiens werde sich auch die Sport-Infrastruktur verbessern. Zur olympischen Entwicklung seines Landes, die nun zu den vier Medaillen in London führte, sagt Gowda: “Schlechter ging es ja nicht mehr, also musste es irgendwann mal etwas besser werden.”
(dpa)
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