Indien erzielt geringstes BIP-Quartalswachstum seit acht Jahren.
Politik bremst Indiens Wachstum.
Indiens Wirtschaftswachstum bremst sich weiter ein.
Wirtschaftslage in Indien: Bürokratie bremst Boom.
Diese Art von Schlagzeilen dominieren seit Wochen die Berichterstattung über Indien.
Ist die indische Erfolgsstory wirklich vorbei? Warum fällt das Wirtschaftswachstum auf unter 6 Prozent? Was bedeutet das? Taucht auch Indien in eine Rezession? Wer ist Schuld? Was macht die Regierung falsch? Ist Indien überhaupt noch interessant für Investments bzw. als Markt?
Diese oder ähnliche Fragen musste ich in letzter Zeit sehr häufig beantworten. Bevor ich Ihnen meine Einschätzung mitteile, lassen Sie uns gemeinsam auf die Rohdaten und Fakten sehen:
Für das Finanzjahr 2012/2013 erwartet man in Indien ein Wirtschaftswachstum von 6,1 Prozent. Letztes Jahr (2011/2012) waren es noch 6,9 Prozent und vor zwei Jahren (2010/2011) 8,4 Prozent. Vor einem halben Jahr war die Welt der Ökonomen noch in Ordnung und Indien noch gefeierter Star. Heute aber ist Indien schon Prügelknabe – nur weil es zwei Prozent Wirtschaftswachstum eingebüßt hat.
Um diese Enttäuschung der Analysten nachzuvollziehen, wollen wir die Wachstumsraten aller vier BRIC Staaten vergleichen. Vielleicht kommen wir ja auch zu einer ähnlichen Einschätzung. Dazu habe ich die Wachstumsraten in Prozent von China (CN), Indien (IN), Russland (RU) und Brasilien (BRA) für jedes Quartal (seit 2010) aufgetragen.
Was das Wachstum betrifft liegt Indien im Vergleich mit seinen „Rivalen“ also immer noch auf dem zweiten Platz, hinter China. Beide Länder haben seit 2010 etwa ein Drittel Ihrer Zuwachsraten verloren. Russland ist stabil bei 4 bis 5 Prozent und profitiert in der derzeitigen weltpolitischen Lage sogar noch (vom Rohstoff-Boom)
. Brasilien dagegen ist komplett abgestürzt und kratzt schon an der Null-Linie.
Es gibt zwar einige Länder, die derzeit schneller wachsen als China und Indien, diese finden aber in kaum einer Statistik Beachtung, zum Beispiel Katar (+18,8 %), Mongolei (+17,2 %), Turkmenistan (+14,7 %), Ghana (+13,6 %), Osttimor (+10,6 %) u.v.a
Wenn man also Indiens Wirtschaft derzeit so abstraft wie es die Mainstream-Medien tun, tut man ihr nicht nur unrecht sondern widerspricht einfach den objektiven Zahlen (siehe oben).
Ein Leben nach dem BIP!?
In Wahrheit ist es aber gemeingefährlich einer Zahl, nämlich dem Bruttoinlandsprodukt, die kaum einer nachvollziehen kann und nur sehr eindimensional den Wohlstand einer Nation beschreiben kann, so viel Macht zu geben.
Das BIP ist aus mehreren Gründen als Wohlstands-Indikator unbrauchbar. So können Ausbeutung der Umwelt, verschwenderischer Umgang mit natürlichen Ressourcen, Unfälle oder buchhalterische Kreativität das BIP erhöhen und damit in der Statistik als vermeintliche Steigerung des Wohlstands erscheinen.
Darüber hinaus werden Schwarzarbeit sowie der in Indien riesengroße informelle Sektor, unbezahlte Arbeit in den Familien und an der Gesellschaft oder Tauschhandel vom BIP nicht erfasst. Gerade in Indien machen diese Wirtschaftsformen aber einen substanziellen Teil der Wirtschaft aus und stellen für eine große Zahl der Armen die Lebensgrundlage darstellen.
Das BIP sagt also so gut wie nichts über den Wohlstand und dessen Entwicklung der 1,2 Milliarden Menschen am Subkontinent aus. Trotzdem betrifft die Veröffentlichung dieser einen fast fiktiven Zahl jeden einzelnen Inder. Auf Basis dieser Kennzahl wird große Politik gemacht: Zinssätze festgelegt, die Inflation gesteuert, Kredite vergeben (oder auch nicht), Investitionsentscheidungen getroffen (oder auch nicht), die Währung auf- bzw abgewertet, Gehälter erhöht beziehungsweise eingefroren.
Man sollte sich früher als später vom Bruttoinlandsprodukt als primäre wirtschaftliche Kennzahl verabschieden – zum Wohle der Menschen.
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