Warum europäische Unternehmen in Indien Lehrgeld bezahlen

Immer mehr europäische Unternehmen verdienen in Indien mittlerweile gutes Geld. Das war allerdings nicht immer so.

Es ist ein Bonmot, dass man für den indischen Markt einen langen Atem benötigt. Ja, „quick wins“ lassen sich in Indien selten erzielen. Man trifft in der Regel auf einen „jungfräulichen“ Markt, den es erst aufzubauen gilt. Für die Kunden ist die Technologie schließlich neu. Und man ist in Indien grundsätzlich mal skeptisch und preissensitiv sowieso. Im Zweifel glaubt man, Substitutionsprodukte selbst produzieren zu können, und das zu einem besseren Preis.

Wenn man als mittelständischer Nischenprodukt Anbieter innerhalb von fünf bis sieben Jahre die eigenen Strukturen und den Vertrieb aufbauen und positive Erträge erwirtschaften kann, liegt man in der Regel also gut im Rennen.

Da die meisten Unternehmen nun aber schon vor zehn bis zwanzig Jahren den Markteintritt in Indien gewagt haben, sind die meisten quasi schon „über dem Berg“.

Aus unzähligen Gesprächen mit Exporteuren und Investoren kenne ich aber auch die Klassiker der Irrwege, die Unternehmen gleich mal zwei, drei Jahre und/oder mehrere hunderttausend Euro Lehrgeld kosten können:

Keine externe Hilfe in Anspruch nehmen und die Dinge allein lösen wollen.

Es klingt wahrscheinlich nach Selbstvermarktung, wenn ich dazu rate, Berater hinzuzuziehen. Es muss ja nicht ich sein. Für die meisten Themen gibt es viel erfahrenere Personen. Aber mir ist es echt unerklärlich, warum viele Firmenlenker und Entscheider in Indien oft „den Helden spielen“.

Vielleicht färbt die in Indien weit verbreitete Eigenschaft der Selbstüberschätzung auch auf uns Europäer ab, wenn wir dort operieren. Aus meiner Perspektive sollte man in einem derartig komplexen und anspruchsvollen Markt aber auch mal auf die Erfahrung anderer zurückgreifen – und wenn es nur dafür ist, gewisse Informationen zu validieren – was mich gleich zum nächsten Punkt bringt:

Manager:innen vernetzen sich zu wenig.

Es ist immer wieder erstaunlich, dass sich viele Manager nicht mit anderen Managern (aus ihrer Branche), die bereits in Indien tätig sind, austauschen. Oft bin ich es, der Menschen zusammenbringt, von denen ich ausgegangen bin, dass sie sich kennen.

Wenn man schon keine Beratungsleistungen in Anspruch nehmen möchte, sollte man wenigstens von den Fehlern der anderen Unternehmen lernen. Oder man geht sogar gewisse Schritte gemeinsam, zum Beispiel als Konsortium. Es muss ja keine „Selbsthilfegruppe“ werden, aber ein offener Austausch und ein gegenseitiges Sparring kann wirklich ein Booster fürs Indiengeschäft sein.

Da sollten wir uns was von den Indern abschauen. Denn die können in der Regel nicht auf Serviceleistungen von Handelskammern etc. zurückgreifen. Sie bilden selbst Seilschaften (oder zumindest Zweckpartnerschaften auf Zeit), wenn sie international agieren.

Indien als Blackbox – zu wenig eigene Informationen aus dem Markt.

Netzwerke und Berater helfen bei der Beschaffung und Validierung von Informationen. Die dritte Möglichkeit, valide Entscheidungsgrundlagen zu generieren, ist, selbst Primärinformationen in Indien zu sammeln.

Aber anstatt sich mittels unabhängiger(!) Kanäle über Kunden, Konkurrenz, Verkaufschancen, gesetzliche Vorgaben zu informieren, nehmen die meisten Manager die Informationen aus der eigenen indischen Organisation, zum Beispiel des eigenen Geschäftsführers, für bare Münze.

Worauf wir in Europa meist vertrauen können, funktioniert in Indien aber nicht in vollem Umfang. Informationen sind in Indien immer(!) persönlich gefärbt. Das bedeutet nicht, dass man belogen wird. Aber kulturell bedingt ist die Wahrheit in Indien relativ. Außerdem neigt der gemeine Inder gerne zur Übertreibung. Es lohnt sich also, stets kritisch nachzufragen, sowie direkt und indirekt (zum Beispiel über „Berater“) Informationen in Indien zu sammeln. Das schafft Transparenz, eine Qualität, die in Indien sehr rar, aber überlebenswichtig ist. Denn nur wer über die richtigen Informationen verfügt, kann auch die richtigen Managemententscheidungen treffen.

Naivität, Hidden Agendas & Superinder.

Wenn wir schon bei den Themen Wahrheit und Transparenz sind, sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass bei indischen Geschäftspartnern nicht immer alles so ist, wie es scheint. Zum einen gibt es das Bonmot des „Superinders“, den Charismatiker mit unglaublichen Netzwerken, der jeden Europäer mit Charme, Statussymbolen und Name Dropping um den Finger wickeln kann.1

Mit etwas Menschen- und Indienkenntnis kann man diese Charaktere aber recht schnell enttarnen. „Gefährlicher“ sind da schon die subtileren verdeckten Anliegen („hidden Agenda“) der eigenen Geschäftspartner. Leider sind wir Europäer oft zu naiv und gutgläubig. Indische Geschäftsleute stellen das eigene Interesse in der Regel vor das Interesse des Arbeitgebers oder Joint Venture Partners. Das wäre noch nicht unbedingt ungewöhnlich. Ich musste jedoch schon öfter beobachten, wie diese eigenen Interessen mit Brutalität gegen den eigenen Partner durchgesetzt werden.

Passagier in der eigenen Firma.

Das führt dazu, dass die indischen Leistungs- und Verantwortungsträger (in der Funktion des Managements oder gar Joint Venture Partners) stets ihre eigene Agenda vorantreiben. Eine Kombination der o.g. Faktoren (keine eigenen Informationen, Intransparenz) führen dazu, dass man sich zu 100 Prozent auf den indischen Managing Director (und/oder Partner) verlassen muss.

Ohne die Informationshoheit zu besitzen, ist man in der eigenen indischen Niederlassung oft nur Passagier. Man verfügt so kaum über die Möglichkeiten Strategie und Umsetzung zu steuern, insbesondere wenn bei der Unternehmensgründung nicht explizit auf die Feinheiten im Memorandum of Association (MoA) und Articles of Association (AoA) achtgegeben wurde. In diesen beiden Dokumenten2 wird die „Mechanik“ der Gesellschaft festgelegt. Daher sollte man sich nicht (nur) von einem (indischen) Rechtsanwalt beraten lassen, sondern von Praktikern und Strategen, die echtes Interesse daran haben, die Position des europäischen Shareholders oder Investors zu sichern, beziehungsweise zu stärken.

Zu wenig Planung & Struktur – bei zu viel Aktionismus & Opportunismus.

Ich muss gleich gestehen: Ich stehe eigentlich auch auf den „Indian way of doing business“. In Indien denkt man groß. Man packt die Dinge an – ohne alles zu Tode zu planen und auf alle Konventionen zu achten. Inder machen einfach. Deutsche (und natürlich auch Österreicher) planen hingegen (zu viel)!

Planung, Prozesse und Systeme sind selbstverständlich wichtig. Aber wir Europäer übertreiben es meistens damit. Und ja, die Inder übertreiben es auch oft mit ihrem Aktionismus, ohne sich vorher ein System und eine Struktur aufzubauen.

Egal ob beim Qualitätsmanagement, in der Produktion oder im Vertrieb. In Indien geht man gerne den einfacheren Weg; gibt sich mit einer „80% Lösung“ zufrieden. So kommt man aber im Indien mittlerweile aber auch nicht (mehr) zum Erfolg.

Das Beste aus beiden Welten!

Als Europäer müssen wir Systeme und Strukturen in Indien aufbauen, aber gleichzeitig genügend Raum lassen für Agilität und Experimente. Aus meiner Sicht gilt für Indien: So viel System wie nötig und soviel Freiraum wie möglich.

Wenn es uns gelingt, das Beste aus beiden Welten zu verbinden. Planung, System, Prozess, Struktur mit Einfach Tun, groß Denken, Flexibilität, zu kombinieren, dann profitiert man nicht nur im Indiengeschäft, sondern wir können auch in unseren Unternehmenszentralen wieder agiler, innovativer und dynamischer werden.

Europa und Indien sind – in Kombination – eine echte Superpower. Ich glaube, das meinen, die Experten, die von Agilität im Management sprechen. Vielleicht können wir an der Schnittstelle von Indien und Europa hier Pioniere sein.

Lesen Sie weitere Artikel zu Themen der Unternehmensberatung Indien.

Bild von Shameer Pk auf Pixabay

Quellen:

  1. https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/a-894901.html
    ↩︎
  2. https://cleartax.in/s/company-moa-aoa-under-companies-act ↩︎

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Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler