Fachkräfteanwerbung in Indien ein Misserfolg? Eine Standortbestimmung

Laut dem STANDARD-Artikel vom 15. Mai 2024 ist die Fachkräfteoffensive der österreichischen Bundesregierung in Indien ein „Flop“. Auch wenn das so explizit nicht schwarz auf „rosa“ gedruckt ist, folgt der Beitrag exakt dieser Argumentationslinie. Die Fakten geben der Redakteurin erstmals recht. Denn letztes Jahr kamen nur 714 Inder:innen mittels Rot-Weiß-Rot-Karte in den österreichischen Arbeitsmarkt (darunter 298 IT-Ingenieure). Heuer werden die Zahlen voraussichtlich auch nicht viel höher ausfallen.

Der Rubikon am Arbeitsmarkt ist bereits überschritten

Den viel beklagten Fachkräftemangel werden wir so wohl nicht bekämpfen. Johannes Berger, Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung bei EcoAustria, rechnete in einer, von Business Upper Austria organisierten Infoveranstaltung vom 7. Mai in Linz vor, dass in den kommenden zehn Jahren etwa 1,4 Millionen Menschen den österreichischen Arbeitsmarkt verlassen, aber nur 900.000 Menschen neu dazukommen werden. Exakt im Jahre 2024 findet diese Trendwende am Arbeitsmarkt statt, sodass erstmals seit den 1980er Jahren die Zahl der erwerbsfähigen Personen in Österreich zurückgeht. Damit ist der vielzitierte demografische Wandel mitten am Arbeitsmarkt angekommen!

Tourismus & Freizeitwirtschaft, Transport und Gewerbe

Die anwesenden Landesräte für Wirtschaft und Soziales forderten unisono für die nächsten Jahre mehr Quantität beim Zuzug (aus Drittstaaten). Daher stellt sich jetzt die Frage, woher wir die 50.000 jährlich fehlenden Arbeitskräfte bekommen sollen. In den Branchen Tourismus & Freizeitwirtschaft, Transport und Gewerbe ist die Lücke bereits für alle spürbar, sodass schon jetzt tausende Stellen schon jetzt unbesetzt sind und Unternehmen ihren Betrieb einschränken müssen (zum Beispiel Viertage-Woche in der Gastronomie).

In den letzten Jahren war (Süd-)Osteuropa hier stets die naheliegende Lösung. Allerdings scheinen die Arbeitsmärkte dort mittlerweile einigermaßen leergefegt, beziehungsweise wollen die Menschen ihre Heimat, auf Grund des dort gestiegenen Lohnniveaus, nicht mehr so einfach verlassen.

Hochkonjunktur im Pflegebereich

Im Gegensatz zur Industrie, die zwar strukturell stets eine hohe Anzahl an Fachkräften benötigt, aber gerade unter der Konjunkturflaute leidet und in Summe sogar Stellen abbaut, herrscht im Bereich der Pflege dauerhaft „Hochkonjunktur“. Da man in Pflegeheimen den Betrieb nicht so einfach reduzieren kann, wird hier der Bedarf von den entsprechenden Einrichtungen ganz laut artikuliert und man für alle Optionen offen ist, egal wie exotisch und fremd sie sind.

Daher versuchen Bund und Länder aktuell auf den Philippinen, in Indonesien, Vietnam, Kolumbien, aber auch in Indien schnell Achtungserfolge zu erzielen. Da hier aber auch noch Spracherwerb, Zusatzausbildung und Nostrifizierung notwendig sind, freut man sich über jede neue Mitarbeiterin aus der Ferne, die dann mittels Vermittlungsagentur in Österreich einreist.

Die ArbeitsmigrantInnen, die in der so genannten „dritten Welt“ in sehr einfachen Verhältnissen leben, nutzen jetzt ihre Chance auf finanziellen Aufstieg und akzeptieren Arbeitsplätze in kleinen österreichischen Landgemeinden mit all ihren interkulturellen Herausforderungen.

MINT-Berufe und Informationstechnologie: Work-Life-Balance als Pull-Faktor

Ich bin in der Rekrutierung von Software-Ingenieuren (und anderen technischen Schlüsselkräften) aktiv und suche in Indien High-Performer, die in Europa nach Karriereoptionen Ausschau halten. Im Gegensatz zum Pflegebereich, handelt es sich im IT-Bereich um ausgezeichnet ausgebildete, international erfahrene und englischsprachige Experten, die auch in Indien Monatsgehälter von zwei Tausend Dollar (oder mehr) erzielen. Die Motivatoren sind hier primär keine wirtschaftlichen, sondern die europäische oder österreichische Work-Life-Balance, ein „Phänomen“, das in Indien weitgehend unbekannt ist.

Daher muss ich den hunderten Kommentaren auf dem STANDARD-Forum widersprechen, die (zu Recht) feststellen, dass Österreich auf Grund der, im internationalen Vergleich (US, UK, Kanada) geringen Gehälter und hohen Steuerquote als Zielland für Hochqualifizierte nicht attraktiv sei.

In Deutschland, wo Gehälter und Steuerquote vergleichbar sind, gab es in den letzten Jahren einen wahren Boom, was den Zuzug Hochqualifizierter aus Indien betrifft. Das „Job Seeker Visa“ (gibt es auch für Österreich), welches es Hochqualifizierten ermöglicht, sich für sechs Monate im Land aufzuhalten, um hier auf Arbeitssuche zu gehen, ist in Indien mittlerweile äußerst bekannt und beliebt.

Die Leute kommen also nicht primär aus finanziellen Gründen, sondern wegen der weltweit unvergleichbar hohen Lebensqualität. Die Kombination aus (immer noch) wirtschaftlicher Potenz, (immer noch weitgehend) funktionierender öffentlicher Infrastruktur und unserer Lebensqualität macht Mitteleuropa zu einem Sehnsuchtsort für hochqualifizierte Inder:innen. In Bezug auf “Quality of Life” zählt Österreich zu den attraktivsten Destinationen – im Gegensatz zum “Ease of Settling In“, in dieser Hinsicht rangiert Österreich weltweit auf dem vorletzten Platz.

Appell & Einladung an die Unternehmen

Auf Karriere.at sind aktuell knapp 4.000 IT-Stellen inseriert. Im Vergleich zu Pflege und Tourismus sind die Zahlen überschaubar. Daher kommt Indien bei der Lösung des Fachkräftebedarfs, zumindest im IT-Bereich, nicht unbedingt die ganz kritische Schlüsselrolle zu. Aber zusammen mit Elektrotechnik, Mechatronik, Maschinenbau etc., wo Indien auch sehr gute Fachkräfte hervorbringt, könnte man allerdings doch ein paar hundert sehr hochwertige Jobs mit Experten aus dem Subkontinent besetzen.

Allerdings nehme ich bei den Unternehmen noch massive Zurückhaltung und Skepsis vor dem Thema “indische Fachkräfte” wahr. Vielleicht ist der Schmerz einfach noch nicht groß genug? Scheingründe wie „fehlende Deutschkenntnisse“ dürften im Jahre 2024 nicht mehr als Ausrede dienen. Erinnern wir uns an den Januar 2020 – damals konnten wir uns auch nicht vorstellen, wichtige Meetings online durchzuführen. Einen Monat später war das dann (new) normal.

In Österreich hofft man offensichtlich, dass sich durch Abwarten die Probleme von allein lösen. Das wird sich allerdings als fataler Irrtum entpuppen. Denn, sobald die Konjunktur wieder anzieht und die demographische Entwicklung einfach so weiterläuft (und das wird sie!), könnten viele Unternehmen auf dem falschen Fuß erwischt werden.

Jene Unternehmen, die JETZT bereits erste Erfahrung, Prozesse und Strukturen im Bereich der internationalen Rekrutierung (in Drittstaaten) aufbauen, werden schon bald im Jahr 2025ff einen strategischen Vorteil haben.

Wie man das angeht, erarbeiten wir, gemeinsam mit 20 Teilnehmer:innen, beim International Recruiting-Retreat & Workation.

Sei dabei und diskutiere mit uns!

Similar Posts:


Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler