Indiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreichte im Jahr 2023 die beeindruckende Höhe von rund 3,7 Billionen US-Dollar, was Indien zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt macht. Während wir hinter diesen Zahlen aber meist nur Unternehmen wie Reliance Industries, Tata, Adani Enterprises, Infosys, etc. vermuten, ignorieren wir, dass der so genannte „informelle Sektor“ schätzungsweise etwa die Hälfte zur gesamten Wirtschaftsleistung, dem offiziellen BIP und somit zur indischen Wachstumsstory beiträgt.
Der informelle Markt im Überblick
Auch wenn die Standortagenturen, Statistikämter, Behörden und Medien nie darüber sprechen, ist der informelle Markt also ein wesentlicher Bestandteil der indischen Wirtschaft, insbesondere des Arbeitsmarktes. Dieser Sektor umfasst alle Klein- und Kleinstunternehmen, die außerhalb der formalen, regulierten Wirtschaft agieren und stellt einen Großteil der Arbeitsplätze in Indien. Schätzungen zufolge sind etwa 80 bis 90 Prozent aller Arbeitskräfte, oder bis zu 500 Millionen Menschen, im informellen Sektor beschäftigt. Diese Jobs reichen von der Landwirtschaft, über Straßenverkäufer und Handwerker bis hin zu kleinen Einzelhändlern und Dienstleistern.
Wirtschaftliche Dynamik und Schattenseiten
Diese Kleinstunternehmen sind familiengeführt und operieren oft ohne formelle Geschäftsstruktur, was ihnen aber eine große Flexibilität, geringe Betriebskosten und quasi Steuerfreiheit ermöglicht. Damit tragen sie erheblich zur wirtschaftlichen Dynamik des Landes bei. Wer schon mal einen Slum besucht hat, weiß, wie geschäftig und unternehmerisch es dort zugeht. Angeblich werden in Dharavi, dem größten Slum Mumbais, jedes Jahr etwa ein Milliarde Dollar erwirtschaftet – siehe hier auch hier.
Kleinunternehmen in diesem Sektor sind oft flexibler und können schneller auf wirtschaftliche Veränderungen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung (und Industriekunden – siehe unten) reagieren. Er bietet flexible Arbeitsbedingungen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Arbeitszeiten und -orte an ihre persönlichen und familiären Bedürfnisse anzupassen. Diese Flexibilität und Anpassungsfähigkeit machen den informellen Sektor zu einem wichtigen Motor für Innovation (Stichwort Jugaad) und Unternehmertum in Indien. Dennoch gibt es einen hohen Preis für diese informelle Wirtschaftsstruktur: Geringe Produktivität, niedrige Löhne und das Fehlen von sozialer Absicherung prägen das Leben derjenigen, die im Schatten der offiziellen Wirtschaft stehen.
Da der Zugang zu traditionellen Bankkrediten oft eingeschränkt ist, nutzen viele Unternehmer informelle Finanzierungsquellen wie Geldverleiher, Verwandte oder Gemeinschaftssparvereine. Diese Methoden der Kapitalbeschaffung sind zwar oft teurer, bieten jedoch den Vorteil der schnellen und unkomplizierten Verfügbarkeit.
Nutzung des Informellen Sektors durch den Formellen Sektor
Der Beitrag des informellen Sektors geht weit über die bloße Produktion von Gütern und Dienstleistungen hinaus. Er dient als essenzielles Rückgrat und flexibles Backup für den formellen Sektor, indem er Arbeitskräfte bereitstellt und in Nischen tätig ist, die für größere Unternehmen zu unrentabel, aufwendig oder risikobehaftet erscheinen. Viele formelle Unternehmen lagern bestimmte Aufgaben an informelle Betriebe aus oder beschäftigen Arbeiter ohne formelle Verträge, um Arbeits- und Umweltvorschriften zu umgehen, Steuern zu sparen und flexible Arbeitskräfte ohne langfristige Verpflichtungen einzusetzen.
Durch diese Praxis profitieren formelle Unternehmen von den geringeren Kosten und der Flexibilität des informellen Sektors, während die Risiken und Unsicherheiten auf die informellen Arbeiter und Unternehmer abgewälzt werden. Dies ist gängige Praxis in vielen mittelständischen Unternehmen in Indien, und mitunter auch bei indischen Tochtergesellschaften ausländischer Firmen – oft ohne Wissen des Stammhauses. Manchmal wird die Auslagerung bestimmter Prozesse an den informellen Sektor bewusst vom Management der Niederlassung als Strategie genutzt, um bestimmte Kosten, Risiken oder Erträge aus der offiziellen Bilanz zu halten.
Ein kritischer Blick auf die eigene indische Organisation lohnt sich daher immer, denn solche Informationen lassen sich meist nur durch informelle, lokale Kanäle gewinnen. Die Nutzung des informellen Marktes ist jedenfalls ein zweischneidiges Schwert: Einerseits können Unternehmen so Risiken in Indien leichter umgehen, andererseits ist dies moralisch fragwürdig und möglicherweise sogar rechtswidrig. In jedem Fall erhöht der informelle Markt die Intransparenz der Geschäftspraktiken in Indien.